Wenn Pferde Geschichten schreiben

8. August 2020

Solange ich Pferde kenne bewegt mich die Frage, wie Pferde die Welt sehen. Wie empfinden sie das, was Menschen mit ihnen tun? Was motiviert ein Pferd, sich dem Menschen anzuschließen, sich von ihm führen zu lassen?

Was geht in einem Pferd vor, das über Hindernisse springt, die höher sind als es selbst? Was fühlt ein Pferd, das den größten Teil seines Lebens auf einem Raum von 3 x 3 m verbringt? Wie halten Pferde es aus, täglich im Reitunterricht zu gehen,  eine Kutsche zu ziehen oder zu Therapiezwecken eingesetzt zu werden? 

Mir fehlt als Mensch die Fantasie dazu, mir vorzustellen, wie sich ein solches Leben anfühlen mag. Ein Pferd kann das mit Sicherheit besser, habe ich gedacht – und mich mit meinem Buch zu meiner Stute Fina gesetzt. Über meine Intuition habe ich meine Fragen an mein Pferd übermittelt und von ihm Eindrücke, Bilder und Empfindungen bekommen, die ich in meine Sprache übersetzt habe.

Wie kann das gehen, fragst du dich? Was kann ein Pferd schon über das Leben erzählen? Pferde werden geboren und sterben und dazwischen atmen, fressen, lieben, spielen und schlafen sie. Manchmal sind sie krank, manchmal finden sie einen Freund fürs Leben. Im Grunde ist das gar nicht so verschieden von dem, was wir Menschen tun, oder?

Fotos von Anna-Lena Heck

Wie kommt ein Pferd wohl damit zurecht, nicht frei zu sein? Nicht gehen zu können, wohin es möchte? Pferde sind Bewegungstiere und auch meine Pferde, die in einer Herde auf einem großen Paddock leben, leben innerhalb von Grenzen. Wie sieht mein Pferd das wohl? Wie fühlt es sich für Fina an, so zu leben? Ich habe mir die Bilder, die ich von einem Leben ohne Grenzen in einer großen Herde habe, vor Augen geführt. Über diese Bilder konnte ich mich mit Fina austauschen: 

Meine Frage: Fina, deine Vorfahren sind das ganze Jahr frei über riesige Flächen gewandert, in großen Herden. Sie hatten nur das zu fressen, was sie selbst gefunden haben, kein Dach über dem Kopf und niemanden, der ihnen half, wenn sie krank waren. Stuten bekamen Fohlen, fast jedes Jahr. Wenn ein Leben zu Ende ging, zog die Herde weiter. Kannst du dir vorstellen, so zu leben?

Das ist Freiheit? Mag sein. Diese Freiheit ist nicht mehr oder weniger erstrebenswert als eine andere Form von Freiheit. Sie birgt andere Herausforderungen als die, die ich hier habe. Viele sind verhungert, manche haben es mit der Wildheit übertrieben und es hat sie das Leben gekostet. Ein falscher Schritt und es kann den Tod bedeuten. Ein Moment der Unaufmerksamkeit und es kann sich alles ändern. Niemand weiß, wohin die Herde morgen zieht. Niemand weiß, wer morgen nicht mehr da ist. Niemand weiß, wer morgen dazukommt. Alles ist ungewiss, alles. Da, wo gestern noch Wasser war ist heute Ödnis. Und du musst weiterziehen, sonst verdurstest du. Ob du noch Kraft in dir hast oder nicht, du musst laufen. Es gibt keine echte Wahl, denn die Wahl ist eine Wahl zwischen Leben und Tod in dieser Freiheit.  Es ist nicht einfach, so zu leben. Das kann ich fühlen, da kann ich mich sofort einfühlen in dieses Leben. Das fällt mir nicht schwer, da kommen direkte Bilder, lebendige Bilder mit Gefühlen. Immer der Himmel über dir, nur der Himmel. Und niemals ein Dach. Niemals ein Schutz. Niemals wirklich ausruhen. So fühlt es sich für mich an.

Ich schrieb diese Worte auf und war total überrascht – so hatte ich mir das nicht vorgestellt, aber es erschien mir sofort nachvollziehbar. Fina hat offensichtlich eine wesentlich realistischere Vorstellung davon, was es bedeutet, jeden Tag diese Freiheit zu haben. Meine Vorstellung von Freiheit ist eine sehr romantische Vorstellung, merke ich.

 

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